Kindheitspädagogik

Von Hilde von Balluseck

Begrifflichkeit

Der Begriff Pädagogik umschließt eigentlich schon die Arbeit mit Kindern, jedenfalls mit männlichen. Im antiken Griechenland bedeutete dieser Begriff die Leitung von Knaben (denn ihnen war damals Bildung vorbehalten). Inzwischen hat sich der Begriff von den antiken Begrenzungen gelöst und wird heute auch auf  Erwachsene, und natürlich auch auf Mädchen und Frauen, angewendet. Aus diesem Grunde wurde vor wenigen Jahren in Deutschland der Begriff der Kindheitspädagogik eingeführt, der die Pädagogik, die sich auf Kinder bezieht, abgrenzt von derjenigen, die Jugendliche und Erwachsene im Blick hat.

Kindheitspädagogik als Beruf

Entwickelt hat sich diese Begrifflichkeit aufgrund einer neu entstandenen Berufsgruppe.
Seit 2004 entstehen an Deutschlands Hochschulen Bachelor- und Masterstudiengänge für Bildung und Erziehung im Kindesalter. Ausgangspunkt für diese Bewegung waren die überwiegend akademische Ausbildung für die Frühpädagogik im europäischen Ausland, die Erkenntnis, dass dieser Frauenberuf aufgewertet werden müsste, und das schlechte Abschneiden von Deutschland bezüglich von Bildungsprozessen und -ergebnissen in internationalen Vergleichen  Die Studiengänge für die Frühpädagogik standen dabei alle vor der Herausforderung, die Konsequenzen des Bologna-Prozesses umzusetzen, der die Einführung von Bachelor- und Master-Studiengängen forderte.

In den neuen frühpädagogischen Studiengängen sollte der Forderung nach einer höheren Qualifikation frühpädagogischer Fachkräfte vor allem in Kindertageseinrichtungen entsprochen und akademisch ausgebildete ErzieherInnen ausgebildet werden. Um zu erreichen, dass die AbsolventInnen auch als den staatlich anerkannten ErzieherInnen gleichgestellte Fachkräfte eingestellt werden konnten, mussten mit den zuständigen Ministerien der jeweiligen Bundesländer Verhandlungen geführt werden. Beim ersten Studiengang dieser Art – Erziehung und Bildung im Kindesalter an der Alice Salomon Hochschule in Berlin – gelang dies schon 2004.

Die Berufsbezeichnung Erzieher/Erzieherin vereinte damit Fachschul- und HochschulabsolventInnen. Die Hochschulen und ihre AbsolventInnen hatten jedoch den nachvollziehbaren Anspruch, dass die von ihnen angebotene Ausbildung sich auch in einer Höherwertigkeit und besseren Bezahlung der AbsolventInnen niederschlagen sollte. Sie gründeten eine Interessenvertretung – die Bundesarbeitsgemeinschaft Bildung und Erziehung in der Kindheit (BAG-BEK) – die sich fortan mit der Arbeitsgemeinschaft Jugendhilfe und den Ministerien zusammensetzte, um eine Bezeichnung für die Berufsgruppe der akademisch gebildeten FrühpädagogInnen zu schaffen. Diese sollte auch eine bessere tarifliche Einstufung der Fachkräfte ermöglichen.  Auf ihrer Frühjahrstagung im April 2009 hat die BAG-BEK beschlossen, für die AbsolventInnen der neuen Studiengänge die Berufsbezeichnung Kindheitspädagogen/-innen zu verwenden. Im Juni 2011 hat sich die Jugend- und Familienministerkonferenz der Bundesländer dazu entschlossen, diese Abschlussbezeichnung den Hochschulen zu empfehlen. Das Studium der Kindheitspädagogik und die Berufsbezeichnungen Kindheitspädagoge/Kindheitspädagogin sind damit neu in Deutschland etabliert.

Die Differenzierung zwischen den AbsolventInnen von Fachschulen und Hochschulen wird damit in der Bezeichnung deutlich. Es bleibt aber zu beachten, dass auch Fachschulen für ErzieherInnen Kindheitspädagogik vermitteln. Sie sind allerdings nicht so spezifisch wie die neuen Studiengänge, weil sie auch für die pädagogische Arbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen ausbilden. In ihren Inhalten und Zielsetzungen, das beweisen die neuen Qualifikationsrahmen für beide Ausbildungsinstanzen, sind sie jedoch den Hochschulen nicht unähnlich.

Die Inhalte

Die Inhalte der Kindheitspädagogik sind einerseits durch die Erkenntnisse der Pädagogik und Psychologie bestimmt. Jeder dieser Studiengänge befasst sich mit der psychischen und sozialen Entwicklung von Kindern und den Förderungsmöglichkeiten, die die Pädagogik bietet. Frühere theoretische Vorstellungen vom Kind, die sich auch in der Pädagogik niederschlugen, gingen aus von einer black box, in die die Pädagogik „hineinbuttert“,  oder eines zu zähmenden Ungeheuers, dessen eigener Wille gebrochen werden soll („Schwarze Pädagogik“, Heime in den 50er-70er Jahren), oder aber von einer Phase der frühen Kindheit, die für Bildungsprozesse noch nicht zugänglich ist (Laissez-faire) oder keiner besonderen Lenkung bedarf (radikale anti-autoritäre Erziehung). Diesen Vorstellungen steht ein neues „Bild vom Kind“ gegenüber, in dem das Kind ein kompetenter Akteur ist, der durchaus selbsttätig Bildungsprozesse mit steuert, dabei aber der Unterstützung durch kompetente Erwachsene bedarf. Die heutige Früh- bzw. Kindheitspädagogik ist von der Auffassung vom Kind als Ko-Konstrukteur  bestimmt.

Über die Modifikation von pädagogischen Glaubenssätzen und Methoden hinaus zeichnet sich die Kindheitspädagogik aus durch eine starke Hinwendung zu den Eltern als Erziehungspartnern, weil nur mit ihnen gemeinsam die Erziehung und Bildung von Kindern gelingen kann.

Ferner umschließt die Kindheitspädagogik die Kompetenz, im Team zu arbeiten und Konflikte bearbeiten zu können, sowie die betriebswirtschaftlichen Aspekte von Kindertageseinrichtungen zu kennen und ggf. steuern zu können, u.a. durch Qualitätsmanagement.  

Diese Ziele sind auch der derzeitigen wirtschaftlichen und politischen Entwicklung geschuldet:

  1. Kinder werden als Humankapital gesehen, das es optimal zu bilden gilt, weil sonst die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands auf den globalen Märkten nicht gesichert ist.
  2. Bildung wird als Aufgabe in die Hand der Individuen gelegt, denen dann die Verantwortung für ihren Erfolg oder Misserfolg zugeschrieben werden kann. Damit werden die gesellschaftlichen Faktoren für die ungleichen Start- und Entwicklungschancen ausgeblendet.
  3. Kindertageseinrichtungen gelten als Unternehmen, die betriebswirtschaftlich zu führen und deren Kosten transparent sind. Damit wird auch die Pädagogik ökonomischem Kalkül untergeordnet.
  4. Kindertageseinrichtungen entwickeln sich zu Dienstleistern für die Unternehmen, die im Zugriff auch auf die weiblichen Arbeitskräfte unbegrenzte Öffnungszeiten benötigen.
  5. Fachkräften wird die Aufgabe übertragen, über Elternarbeit und die Bildung der Kinder die Auswirkungen der sozialen Ungleichheit zu nivellieren.

Diese Ziele haben das Bundesbildungsministerium, die Robert Bosch Stiftung und die Jacobs Foundation bewogen, umfassende Forschungsprogramme aufzulegen, mit denen die Kindheitsforschung in Deutschland international konkurrenzfähig werden soll. Außerdem braucht die Kindheitspädagogik an Hochschulen AnwärterInnen auf die Lehrstühle, die in einschlägiger Forschung ausgewiesen sind.

Aus den genannten Zielen wird aber auch deutlich, dass pädagogische Fachkräfte heute mit einer beeindruckenden Zahl von Aufgaben und Herausforderungen konfrontiert sind. Dabei ist ein akademisches Studium, sind aber auch ständige Weiterbildungen eine wertvolle Stütze.             

Zur Abgrenzung siehe auch: Elementarpädagogik, Frühpädagogik, Elementardidaktik

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